Verfasst am: Do, 11.März 2010, 00:19 Titel: Meine Sinnsuche in der Erotikbranche. Resümee: Sex ist keine
Was mache ich denn da wieder für Sachen? Die Woche beginnt vielversprechend. Am Dienstag treffe ich mich mit einem verlässlichen Gangbangteilnehmer der Berliner Pornoproduktionsfirma Inflagranti, am Mittwoch bin ich zum Geburtstags-Get-Together bei der vielseitig talentierten Ariane eingeladen, die seit einer gefühlten Ewigkeit mit Escort ihren Lebensunterhalt verdient.
Wolfgang: pornomüder AO-Sexpartygänger
Er ist ein Kollege, der sich gleichsam von der Szene angezogen fühlt. Wir lernten uns einst auf einem Pornodreh kennen, wofür Komparsen zur erotischen Adaption des Kinofilms Fight-Club gesucht wurden. Es erschienen nur eine handvoll Hilfsdarsteller, sodass man das eigentliche Drehvorhaben ersatzlos strich, was uns zu reinen Zuschauern ohne Aktion verdonnerte. Wir kamen ins Gespräch, wir lernten uns schätzen und hielten Kontakt.
Wir trafen uns gestern zum Quatschen über Gott, seine Welt und was er mit der Erschaffung der Sexualität so angerichtet habe. Die schlichte Fähigkeit inklusive der längerfristigen Aufrechterhaltung der Er*ktion sei doch die wahre Währung in der Pornobranche. Bei Milchkaffee und Käsekuchen plaudern wir in einem Kreuzberger Szenekaffee auf uns ein. Warum gibt es kaum eine intellektuelle Sinnfindung darüber, welchen Einfluss Pornografie auf die Gesellschaft habe? Was denkt wohl ein Philosoph wie Peter Sloderdyke über die Wirkung der gewaltigen Sexualisierung der westlichen Welt? Wohin entwickelt sich die Pornoindustrie? In den Siebzigern eine Friss-und-Stirb-Analogie, die aus den immer gleichen Abläufen einfältige Filmchen mit nur wenigen leicht kreativen Ausreißern wie Deep Throat hervorbrauchte, das sich heute zum Onaniermaterial von Amateurpaaren entwickelt hat? Der Porno 2.0 hat längst seinen Siegeszug angetreten, man tritt mit den Darstellern in Kontakt und nimmt an den gezeigten Handlungen interaktiv direkt Einfluss.
Wolfgang schmeckt noch den schalen Nachgeschmack, als er über seinen letzten Gangbang im Insomnia in Tempelhof berichtet. Das Personal des Ambientes schaute gelangweilt zu. Kein Vergleich zu seinem ersten AO-Gangbang (kondomfrei) bei Alex-Hero, der ihm einen gewaltigen Kick verschaffte. So ist das: dein erstes Mal vergiss du nie. Und die emotionale Mischung aus Angst und Geilheit gibt es eben kein zweites Mal.
Wolfgangs Mutter trug viel zu seiner Ideologisierung der Sexualität durch mütterliche Emanzipationsbestrebungen bei. In der Folge entwickelte er Überängste zu allem Weiblichen. Kommt mir leider nur zu bekannt vor. Das Internet habe ihm letztlich ermöglicht, diese Barrieren seiner Verklemmtheit einzureißen und langsam eine realistische Sichtweise zu gewinnen. Er habe sich mühsam vom femininen Gedankenkorsett seiner Epoche befreit um verstehen zu lernen, dass es in Wahrheit um sexuelle Spielfähigkeit ginge und nicht um pfui bah.
Wir sprechen über die unangenehme, unsolidarische Sexualität vieler Reicher, die sich professionelle Sexarbeiterinnen als Machtdemonstration bedienten. Diese Mitnahmementalität der Mächtigen sage viel über ihre destruktive Kommunikationsfähigkeit aus. Da bekäme man ein Gefühl dafür, dass eine gleichförmige Zivilisierung durchaus Sinn macht.
Sind Pornos eine Art Anschauungsunterricht, das gerade das Aufzeigen animalischer Gelüste Vertrauen in die Menschlichkeit des Einzelnen schafft? Man kommt auf einem Gangbang einfacher mit Leuten ins Gespräch als in einer Kneipe. Hier trifft man mitunter auf nackte Geschlechtsgenossen, die man sonst nie kennengelernt hätte – vom Immobilienmakler über den Mechaniker bis zum Arbeitslosen. Es gibt, fern jeder sozialer Abgrenzung wie Geld, Kleidung, Prestige, eine Gesprächsbasis, die verbindet. Die Unterschiede spielen keine Rolle mehr. Die Dicke der Brieftasche wie die Dicke des Bauches sind nebensächlich. In welcher gesellschaftlichen Konstellation gibt es das sonst?
Die Kontrollfreaks seien auf Gangbangs fehl am Platze, denn man spiele bei diesen Herrenüberschusspartys eine sexuelle Komödie, bei der man abstrahieren können müsse. Wer sich nicht fallen lassen könne, wer nicht zuzulassen verstehe, die Dinge so zu nehmen wie sie sind, der sei vielleicht ein gesellschaftsfähiger Bürger aber niemals ein akzeptabler Sexualpartner.
Bei den Aufzeichnungen der Inflagranti-Gangbangs fallen immerzweiSorten von Männer auf: die Normalos, wie Wolfgang und ich, und die Profis, die allzeit bereit stünden, wenn beim Rein-Raus-Geschehen aus rein natürlichen Gründen Stillstand drohe. Es gibt freilich noch einen anderen Unterschied: die einen machen es nur zum Vergnügen, die anderen bekommen dafür zusätzlich Geld. Erstaunlicher Weise hat der Verdrängungswettbewerb zwischen Profi-Abteilung und Privatpornos die Kommerzialisierung verschärft. Es ist eine Art Demokratisierung der erotischen Landschaft eingetreten: der Konsument n plötzlich wählen, ob er die in Szene gesetzte, geschminkte, schönheitschirurgisch behandelte Künstlichkeit oder die private Echtheit bevorzugt. Und da das Pendel in Richtung Authentizität ausschlägt, produzieren immer mehr Profis Filmchen, die amateurhaften Charme versprühen. Freilich ist der natürlich bloß gespielt.
Jedermann bzw. jede Frau n sich heute mit eigenen Pornos positiv in die Szene einbringen. Und die drastisch rückläufigen Verkaufs- und Ausleihzahlen sprechen da zusätzlich eine deutliche Sprache. Keiner n in der Pornoindustrie heute Alleinherrschaft demonstrieren ohne lächerlich zu wirken. Und so sind wir beide gespannt, wohin in rasender Geschwindigkeit die Entwicklung weiter geht.
Auf der nächtlich beleuchteten Straße verabschieden wir uns mit dem beiderseitigen Wunsch, man möge in den Medien endlich mal Abstand davon nehmen, die Szene als Sensation oder Mythos zu verkaufen. Gerade für die Pornoindustrie, bei Gangbang- und Bukkakeveranstaltungen gilt: es wird immer nur mit Wasser gekocht. Will sagen, es ist geradezu erschreckend unspektakulär. Keine Scheu also, es mal für sich selbst auszuprobieren. Sexarbeiterinnen aller Couleur sollten einfach die nackte Wahrheit sagen und sich weigern im TV das zu inszenieren, was die Öffentlichkeit von ihnen erwartet.
Ariane: smarte Sexworkerin mit breitem sozialem Netzwerk
Zum Deep Throat mit anschließender erfolgreicher Gesichtsglasierung lernte ich Ariane kennen, als wir uns erst am Hackeschen Markt zwei Stunden angeregt unterhielten, ehe wir uns auf ein Wall-WC am Berliner Dom zurückzogen und ich den Beweis meiner Schnellspritzerkünste antrat. Eine intelligente, empathische Frau mit einem beachtlich lesenswerten Blog, in dem sie von (Zitat) „einem amüsanten Dreh-Termin als Sex-Coach für den SWR“ berichtet, „wobei Bananen, Karotten und Dildos zur Auswahl standen und ich die richtige und falsche Missionars-Stellung, Vögeln mit Bierbauch und einen Blowjob am lebenden Objekt exemplifizieren durfte.“ Den Sendetermin auf Eins Plus verspricht sie allen Stammlesern ihrer Blogs beizeiten bekannt zu geben.
Ariane lud ihr gesamtes soziales Netzwerk zum Geburtstag ein, wobei wie immer Liebeskasper, Stalker und nur-Kaffeetrinken-Anfrager ausgeschlossen waren. Und so machte ich mich auf nach Mitte, mit Geschenken natürlich. Ariane öffnete die Wohnungstür in einem extravaganten, gerade in London erstandenen Minirock, der den männlichen Blick quasi reflexartig auf Schritthöhe zwang. Dabei gab es noch viel Außergewöhnlicheres an ihr zu erforschen, worauf die Geburtstagsgemeinschaft jedoch erst explizit von ihr selbst hingewiesen werden musste: ihre Ohrringe. Da baumeln Stecker drin, die auf der linken Seite als BH und auf der rechte Seite als Slip geformt sind. Unglaublich.
Die Geburtstagsrunde besteht aus ihren männlichen Lieblingsgästen, den beiden Berufskolleginnen Sybille und Marielle, dem Travestiekünstler Gerome. Als Leseratte hat sie fast ausschließlich Bücher geschenkt bekommen. Und für die zahlreichen Blumen fand sich kaum noch Platz in der sonnendurchfluteten Wohnung. Ihre beste Freundin musste wegen eines überraschend lukrativen Termins kurzfristig absagen … und Ariane wünscht ihr am Telefon aufrichtig, dass es ein ganz toller Kunde sein möge. Auf dem Herd steht selbstgekochtes, leckeres Chili con Carne. Die zumeist hochemotional und höchst amüsant vorgetragenen Anekdoten der Sexworkerinnen lassen Lachsalven von den Wänden widerhallen und so bewahrheitet sich mal wieder: die Realität schreibt nicht nur die besten, sondern auch die komischsten Geschichten.
Und während Ariane gewohnt offen und sympathisch erzählt, gehen telefonisch immer wieder Geburtstagsglückwünsche ein, der ausgeschenkte Sekt fördert rosa Bäckchen und eine Konversationsbereitschaft zu Tage, bei der man als männlicher Teilnehmer der Runde schon mal um eigene Gesprächsanteile ringt. Lebensbejahende Menschen in Mitte und ich hatte die Ehre mittendrin zu sitzen. Dankeschön.
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